Die Weine von Bibi Gratz waren mir bisher nur äusserlich, aufgrund der farbigen Künstleretiketten, bekannt. Umso mehr freute es mich, dass wir die Gelegenheit bekamen, diesen aussergewöhnlichen Winzer mit seiner künstlerischen Herkunft zu besuchen. Organisiert vom Schweizer Importeur Paolo Cattaneo (Arvi) zusammen mit René Gabriel und André Kunz machten wir uns auf die Reise nach Florenz.
Die Anfänge
Bibi Graetz wuchs im Castello di Vincigliata bei Florenz in einer Künstlerfamilie auf. In den 90er Jahren entschied er sich, die alten Weinberge rund um sein Zuhause zu bewirtschaften, anstatt sie verfallen zu lassen. Ohne formale Önologie-Ausbildung, aber mit viel Leidenschaft, begann er mit der Weinproduktion. Seine Etiketten gestaltet er selbst, was seinen Weinen eine persönliche und wiedererkennende Note verleiht.
Bibi, ein positiv getriebener, leidenschaftlicher und energiegeladener Mensch war mit seinen ersten Versuchen nicht zufrieden. Günstige Landweine halt, teils offen verkauft und kaum rentabel bewirtschaftet. Bald erkannte der Visionär, dass seine Rebstöcke uns traute Heim herum, für seine Ansprüche bei weitem nicht genügten, aber für eine Neuanpflanzung schlicht die Geduld fehlte. Zudem stiegen mit jeder Ernte seine Ambitionen: Traditionelle Weine, naturbelassen, mit wenig Eingriffen im Ausbau aber auf Weltklasse Niveau sollten es werden. Inspiriert wurde er weniger von seinen Winzerkollegen in der Toscana als viel mehr von den Grand Cru aus dem Burgund. Graetz ist überzeugt, dass die Frucht, die präzisen Beerennoten und die Eleganz auch mit Sangiovese zu erreichen sei.
Also hielt er Ausschau nach begnadeten Rebbergen. Lagen mit Geschichte und Tradition und vor allem: Alte Rebstöcke! Fündig wurde er beispielsweise in Vincigliata, Londa, Lamole, Montefili und Siena und sogar auf der Insel Giglio für einen bemerkenswerten Weisswein. Logistisch nicht ganz einfach, aber alle Weinberge liegen maximal eine Stunde von seiner Cantina entfernt, und so kommen die Trauben mit Kühltransporten optimal im Weinkeller an.
Heute
Sein Weinkeller und Zuhause ist seit der Corana Zeit übrigens ein ehemaliges Hotel in Fiesole auf den Anhöhen von Florenz. Die Tanks und Barriques stehen in der damaligen Diskothek und der Verkostungsraum war früher ein Ballsaal. Alles sieht handwerklich aus, keine extravagante Architektur. Das passt auch zu seinen Weinen. Im Keller wird wenig gemacht. Vergärung in offenen Barrique oder grossen Fässern und Ausbau in gebrauchten Barrique. Die Substanz der Reben gebe genug her. Der natürliche Prozess muss nur begleitet nicht dominiert werden. Jährlich kommen nur 1% neue Barriques in den Keller.
Produziert werden rund ein Dutzend verschiedene Weine. Dazu einige Spezialeditionen und Experimentalweine in Kleinstmengen. Und sicherlich genau so viele Ideen für weitere Varietäten hat der Maestro in seinem Kopf.
Bibi Graetz hat sich mit seiner Kombination aus künstlerischem Flair und Respekt vor der Natur und vor traditionellen Rebsorten einen festen Platz in der Welt des italienischen Weins erarbeitet. Seine Weine sind Ausdruck von Kreativität, Leidenschaft und ständiger Weiterentwicklung.
Bei unserem Besuch fokussierten wir uns auf die beiden wichtigsten Weine. Auf den Testamatta und den Colore. Doch zuerst hören wir was der Macher selber über seine beiden Flaggschiffe zu berichten weiss:
Bezugsquelle für die Schweiz:
Testamatta
Testamatta! Wörtlich übersetzt „Verrückter Kopf“. Positiv betrachtet finde ich den Namen wunderbar passend zu Bibi Graez. So viel passiert im Kopf dieser leidenschaftlichen, positiven und inspirierenden Person. Testamatta ist der wichtigste Wein und auch mit mehreren 10’000 Flaschen die grösste Produktion. Ein intensiver Sangiovese aus 30 – 40 jährigen Reben aus den Gebieten aus gepachteten Weinbergen von Vincigliata, Londa, Lamole, Montefili und Siena.
Beim 2020er kam eine Parzelle Nahe der Cantina in Fiesole dazu. Die einzelnen Parzellen werden dabei bis zu achtmal gelesen und die optimale Traubenreife zu erreichen. Traditionell in offenen Fässern vergoren und ausgebaut während rund 20 Monaten in mehrjährigen Barriques.
2015 Bibi Graetz Testamatta, IGT Toscana |
91
trinken – 2035
Mai 2025: . Schöner, offener, reifer, klassischer Sangiovese Duft. Kirschen, Tabak, Gewürze, Stroh. Balsamische Noten, die an einen gereiften Brunello erinnern. Mittelschwer, elegant. Fein, geschmeidig im Abgang.
2016 Bibi Graetz Testamatta, IGT Toscana |
92
trinken – 2040
Mai 2025: 2016 zeigt sich aktuell sehr als ausgewogener, geschmeidiger Wein. Dunkle, wärmere Aromen als beispielsweise 2015. Rot- und schwarzbeerige Nuancen mit Gewürze, Teer und Tabak. Gute Gerbstoffe, mild eingebunden. Jetzt in einer sehr schönen Trinkphase.
2018 Bibi Graetz Testamatta, IGT Toscana |
93+
trinken – 2040
Mai 2025: 2017 wurde praktisch alles deklassiert. Daher direkt zu diesem bemerkenswerten 18er. Ein kraftvoller, konzentrierter Testamatta. Dunkle Kirschen, Erde, Laub. Im Gaumen kompakt, mineralisch. Mit Tiefgang und guter Länge. Zeigt Reserven.
2019 Bibi Graetz Testamatta, IGT Toscana |
92
trinken – 2035
Mai 2025: Eine sehr eleganter, feingliedriger Testamatta mit klassisch rot- und blaubeerigen Sangiovese Aromen. Rosmarien, Lavendel, Leder und Erde. Endet geschmeidig und mittelschwer. Jung zugänglich mit mässiger Säure.
2020 Bibi Graetz Testamatta, IGT Toscana |
94
trinken – 2040
Mai 2025: Ein gehaltvoller, offensiver Wein. Wirkt wie ein konzentrierter Brunello mit intensiver Säure-/ Holz Kombination. Die Aromatik ist dunkelbeerig und frisch. Super elegante Gerbstoffe verleihen dem Wein ein attraktives Gesamtbild. Sehr gelungen. Jetzt als Essensbegleiter und gut für 10 – 15 Jahre weitere Lagerung.
2021 Bibi Graetz Testamatta, IGT Toscana |
92+
trinken – 2035
Mai 2025: Ein kraftvoller, intensiver Sangiovese. Mit viel Säure und gute fruchtige Grundausstattung. Trocknet leicht aus und wirkt daher aktuell etwas defensiv und floral in der Ausstrahlung. Hier helfen noch ein paar Jahre zur Entwicklung.
2022 Bibi Graetz Testamatta, IGT Toscana |
94+
trinken – 2040
Mai 2025: Ein kraftvoller, offensiver Wein. Voller Energie und Spannung. Super reife beerige Aromen, süsse Geschmeidigkeit und tolle Länge. Rund, harmonisch, gross. Wenn mich die früheren Jahren eher an Brunelli erinnert, nähert sich der 2022er dem grossen Bruder „Colore“ an und damit auch diese verführerische rotbeerige „Burgundernote“.
Colore
Um den Colore zu verstehen muss man den „Garten“ gesehen haben wo er wächst. Ein spektakulärer alter Terrassen Weinberg in Lamole mit teils 100jährigen Sangiovese Rebstöcken. Ein biodiverser, naturbelassener, magischer Kraftort. Genau ein solcher Ort suchte Bibi jahrelang für seinen grössten Wein.
Die knorrigen Rebstöcke geben bis zu 20 (!) Kilogramm Trauben pro Jahr ab. Weggeschnitten und vor selektioniert wird nichts. Das Basismaterial sei dermassen stark. Alles kommt in den Keller. Vergoren wird in alten Barriques und 50 Hektoliter Fässern. Aufgrund der Traubensubtanz benötigt es auch kaum neue Barriques im Ausbau. Lediglich 1% Neuholz wird pro Ernte eingesetzt. Der Rest kommt während 18 Monaten in bis zu zehnjährigen Fässern. Die Parzellen werden einzeln ausgebaut, anschliessend der finale Blend, der meistens zur Hauptsache aus diesen historischen Rebberg besteht. Ergänzt mit Sangiovese aus anderen Lagen oder mit kleinen Prozentsätzen Canaiolo und Colorino. Je nach Jahrgang 10’000 – 30’000 Flaschen.
2015 Bibi Graetz Colore, IGT Toscana |
96
trinken – 2045
Mai 2025: 80% Sangiovese, 10% Canaiolo, 10%, Colorino. Intensives, kraftvolles Bouquet. Ungewohnt viel Stoff für die sonst dezente Sangiovese Traube. Schwarze und rote Beeren, leicht nussig, erdig. Mit mehr Luft kommen Gewürznoten, und florale Aromen (Lavendel, Rosmarien) zum Vorschein. Kompakt im Gaumen, sehr ausgewogen, geht in einen langen Abgang über und endet nochmals sehr druckvoll. Ein sehr vitaler, langlebiger Colore.
2016 Bibi Graetz Colore, IGT Toscana |
94+
trinken – 2040
Mai 2025: 80% Sangiovese, 10% Canaiolo, 10%, Colorino. Im Bouquet etwas defensiver als der 2015er. Kalk, Asche, Stroh in Kombination mit blau- und rotbeerigen Aromen. Im Gaumen wirkt er dann deutlich offener als in der Nase, mit leichtem Hang zurr Opulenz. Hier lohnt sich bestimmt noch fünf bis zehn Jahre Geduld, bis das eigentlich grössere Jahr voll durchschlägt
2018 Bibi Graetz Colore, IGT Toscana |
92
trinken – 2035
Mai 2025: 80% Sangiovese, 10% Canaiolo, 10%, Colorino. Stark selektionierter Jahrgang mit lediglich 9000 Flaschen Colore. Offene, reifende Nase. Defensive Frucht. Pflaumen, Rosinen, nasses Holz, Malz, Waldboden. Auch im Gaumen erstaunlich weit entwickelte Aromen. Das ganze kommt aber sehr kompakt, gut eingebunden und balanciert daher. Es scheint einfach ein schneller reifender Jahrgang zu sein.
2019 Bibi Graetz Colore, IGT Toscana |
94+
trinken – 2045
Mai 2025: 100% Sangiovese. Starke Performance – starker Jahrgang. Bibi entschied sich für einmal nur Sangiovese zu verwenden. Für mich wirkt er moderner, holzbetonter im positiven Sinn. Die beerigen Aromen kommen enorm präzise zur Geltung in schöner Harmonie zu Holz -und Terroirnoten. Ein energetischer, strammer Wein mit weiterhin positivem Entwicklungspotenzial.
2020 Bibi Graetz Colore, IGT Toscana |
95+
trinken – 2045
Mai 2025: 100% Sangiovese. Fruchtgetriebener, extrovertierter Colore. Viel rotbeerige Aromen, Kirschen, Himbeeren. Konzentriert, kompakt im Gaumen. Sehr harmonisch schon in dieser jungen Phase. Burgundische Eleganz mit italienischer Vitalität.
2021 Bibi Graetz Colore, IGT Toscana |
95+
trinken – 2045
Mai 2025: 100% Sangiovese mit stolzen 35’000 Flaschen im Jahrgang 2021. Direkt neben dem 2020 probiert erscheinen mir die beiden Weine aktuell sehr ähnlich. Auch hier wirkt er sehr offen, super beerige Extraktion. Wie ein Power Pinot mit massiver Säure, toller Struktur und Länge. Alles endet elegant und erhaben.
2022 Bibi Graetz Colore, IGT Toscana |
97+
trinken – 2045
Mai 2025: 96% Sangiovese, 3%, Colorino 1% Canaiolo. Süsse, dunkle und rote Kirschen, Himbeeren, floral im positiven Sinn mit Lavendel. Dazu verlockende Gewürznoten. Enorm frisch, vital und Energie geladen. Top feine Gerbstoffe, präzise vinifiziert und tolle Länge. Ein wunderbarer Wein ganz am Anfang seiner Genussreife. Von Jahr zu Jahr besser. Das wird ganz spannend sein die Entwicklung weiter zu verfolgen.